Ernährungs­trend in alter Tradition

Vom Blatt zur Wurzel und vom Kopf zum Schwanz

In Kürze
Beim Kochen bedeutet Nachhaltig­keit auch die Rück­besinnung auf alte Rezepte für die weniger edlen Teile tierischer und pflanzlicher Lebens­mittel: Vieles ist zu schade zum Wegwerfen.
Nachhaltigkeit im Trend
Die Küchentrends „Nose to Tail“ und „Leaf to Root“ zielen auf die möglichst umfassende Verwertung von Lebens­mitteln ab.
Mit Strunk und Stiel
Viele Obst- und Gemüse­sorten sind von Haus aus komplett essbar – und Vieles, was beim Putzen und Schälen als Abfall in die Tonne wandert, kann zum Lecker­bissen werden.
Mehr als Steak und Filet
Bei tierischen Produkten sind viele Fleisch­zuschnitte sowie Innereien aus der Mode gekommen. Zu Unrecht – es kommt auf die Zubereitung an.
Bisweilen riskant
Selbst wenn viel mehr essbar ist, als viele vermuten: Manche Pflanzen­teile sind ungenießbar oder giftig, zudem können sie ebenso wie tierische Organe mit Schad­stoffen belastet sein.
Leckere Reste
„Nose to Tail“ und „Leaf to Root“ enden nicht, wenn das Essen auf dem Teller ist. Zum Nachhaltigkeits­ansatz gehört auch, Reste zeitnah weiter­zuverarbeiten.
Nichts verschwenden

Nach­haltiges Kochen bedeutet nicht nur den bevorzugten Einsatz regionaler und saisonaler Produkte, sondern auch die umfassende Verwertung von Lebens­mitteln. Als Trends haben sich die Konzepte „Nose to Tail“ und „Leaf to Root“ etabliert, die alles Essbare an Tier und Pflanze – vom Kopf bis zum Schwanz, vom Blatt bis zur Wurzel – auf den Teller bringen wollen. Der Londoner Starkoch Fergus Henderson rief „Nose to Tail“ ins Leben, um seinen Gästen in Vergessenheit geratene Produkte wieder schmackhaft zu machen. Die Food-Journalistin Esther Kern ließ sich davon inspirieren, diese kulinarische Philosophie als „Leaf to Root“ auf pflanzliche Lebens­mittel anzuwenden. Beide Bewegungen haben zum Wieder­entdecken alter Rezepte beigetragen, aber auch zum Anpassen von Rezepten und Koch­traditionen anderer Länder auf regionale Produkte.

Auf gesellschaftlicher Ebene hat dieser Ansatz zusätzlichen Schub erhalten: Bis 2030 soll die Verschwendung von Lebensmitteln halbiert werden – dieses Ziel haben sich die Vereinten Nationen und die Bundes­regierung gesetzt. 

Schälen oft unnötig

Immer weniger Menschen haben in der Familie oder im Hauswirtschaftsunterricht kochen gelernt. Fehlendes Grundwissen führt dazu, dass viele Pflanzenteile im Abfall landen, aus denen sich leckeres Essen zubereiten lässt. Durch auf perfekte Optik getrimmtes Obst und Gemüse werden zudem Schönheitsfehler als Signal für „ungenießbar“ wahrgenommen, selbst wenn es nur ungeputztes Pflanzengrün oder kleine Schorfstellen auf dem Apfel sind.

Schalen, Blätter und Stiele sind – sofern grundsätzlich genießbar – zu schade zum Wegwerfen. Die Schale lässt sich bei vielen Obst- und Gemüsesorten essen. Bisweilen stecken sogar besonders viele Vitamine direkt unter der Schale. Ungeschältes Obst und Gemüse sollten Sie vor dem Verzehr waschen. Bioprodukte sind dabei die bessere Wahl, denn hier sind die Schalen in der Regel weniger mit Schadstoffen belastet

Dünnschalige Früchte wie Äpfel, Birnen, Zwetschgen oder Pfirsiche schälen wohl die wenigsten, genauso wie Möhren oder Rettiche. Bei Gurken ist es eher eine Frage der Gewohnheit – aber ebenso wie bei Roten Beten ist das Schälen nicht nötig. Bei manchen Pflanzen kommt es auf die Sorte an: Längst nicht bei allen Kürbissen lässt sich die Schale mitessen. Ein Hokkaido- oder Butternut-Kürbis jedoch kann problemlos ungeschält in den Topf. Bei Blumenkohl und Brokkoli dürfen nicht nur die Röschen, sondern auch der kleingeschnittene Strunk mitgekocht werden, bei Kohlrabi gilt das für Stiele und Blätter.

Vom Abfall zur Zutat

Dass die nach dem Gemüse­putzen übrigen Schnitt­abfälle ohne Umweg im Müll­eimer – heute in der Biotonne – landen, ist eine relativ junge Erscheinung. Gerade einmal bei Spargel haben viele noch auf dem Schirm, dass die Schalen eine hervorragende Suppen­grundlage bilden.

Das Prinzip lässt sich jedoch vielfältig anwenden.

Gemüsebrühe und -suppe

Geputzte Stiele, Strünke, grobe Blätter, Schalen und End­stücke werden ganz einfach zu einer Gemüse­brühe, die sich sofort nutzen oder auf Vorrat in Schraub­gläser füllen oder einfrieren lässt. Dazu die Gemüse­reste mit Gewürzen wie Pfeffer­körnern, Lorbeer, Piment, Lieb­stöckel in einen Topf mit Wasser geben und einige Stunden bei milder Hitze köcheln lassen. Salzen, abschmecken und dann durch ein feines Sieb gießen – fertig.

Soll keine Brühe, sondern eine cremige Suppe daraus werden, seihen Sie die Suppe nicht ab, sondern pürieren das Gemüse im Topf. Das geht am besten mit eher weichen Strünken wie bei Blumen­kohl, nicht aber bei zähen Schalen.

Pesto und Aufstriche

Ob zartes Möhren­grün oder die Blätter von Radieschen, Kohl­rabi oder Brokkoli: Sie alle lassen sich genauso wie Basilikum oder Bärlauch zu Pestos verarbeiten. Dazu können Sie die Blätter mit Pinien­kernen, Sonnen­blumen­kernen oder Nüssen nach Wahl und Oliven- oder Rapsöl klassisch mörsern. Alternativ pürieren Sie die Blätter zusammen mit dem Öl und geben Sie die Nüsse oder Kerne klein­gehackt dazu. Anschließend würzen und abschmecken. Zusätzliches Aroma bringen Sie in das Pesto, wenn Sie die Kerne oder Nüsse zuvor anrösten. Wenn Sie ein solches Pesto anbieten, achten Sie auf mögliche Allergien bei Ihren Gästen!

Gleicher­maßen lassen sich die Blätter kleingehackt als Zutat in Joghurt- und Quark-Dips oder Frischkäse-Aufstrichen einsetzen. Je nach verwendetem Grün erhalten diese auch eine leichte Bitter­note oder Schärfe.

Chips

Aus den Blättern von Möhren, Roter Bete, Pastinaken und Rettich können Sie ebenso wie aus Grünkohl- und Wirsing-Blättern Gemüse­chips machen. Schneiden Sie dazu die Blätter in mund­gerechte Stücke und tauchen Sie sie in nach Geschmack gewürztes Olivenöl. Anschließend können Sie die Blätter auf einem Backblech im Ofen oder in einer Pfanne auf dem Herd rösten.

Achtung: Kartoffel­schalen sind für solche Snacks ungeeignet, da sie giftiges Solanin enthalten können!

Geröstete Kerne

Wenn Sie Kürbisse kochfertig machen, fallen sehr viele Kerne an. Kürbis­kerne schmecken gut als Snack und verleihen Suppen und Salaten als zusätzliche Komponente Crunch. Rösten sie dafür die von Frucht­fleisch befreiten Kerne pur in der Pfanne oder gesalzen und/oder anders gewürzt auf einem Back­blech im Ofen.

Salat

Manche Blätter wie die von Radieschen lassen sich direkt zu einem Salat verarbeiten. Andere wiederum haben so ausgeprägte Aromen, dass sie anderen Salaten zusätzliche Würze verleihen – auch Rucola pur ist nicht jedermanns Geschmack. Tasten Sie sich hier einfach heran, was Ihnen schmeckt.
Es kommt darauf an

Ob sich bestimmte Teile einer Pflanze problemlos verspeisen lassen, hängt auch davon ab, wie frisch Obst und Gemüse sind – und wann sie geerntet wurden. Dicke Schalen und holzige Strünke stark ausgewachsener Pflanzen mögen essbar sein, ein Genuss sind sie jedoch nicht unbedingt. Ganz anders sieht es bei jüngeren und damit zarteren Exemplaren aus.

Selbst bei perfekter Lagerung halten Obst und Gemüse nicht unbegrenzt; gerade die außen liegenden Pflanzenteile verderben meist als erstes. Kleine Schönheitsfehler sind kein Hindernis, aber wenn etwas schon länger vor sich hin welkt, braune Stellen bekommen hat oder muffig riecht, muss es nicht mehr auf dem Teller landen. Hier helfen Tast- und Geruchssinn bei der Entscheidung.

Giftstoffe und Schadstoffe
Infografik: Schadstoffe in Obst und Gemüse

Obwohl bei Obst und Gemüse weitaus mehr essbar ist, als viele es heute gewohnt sind: Je nach Pflanze sind manche Teile ungenießbar oder sogar giftig. Traditionelle Küchenregeln sind hier immer noch ein guter Anhaltspunkt. Bohnen und Kartoffeln etwa dürfen nicht roh verzehrt werden – die in ihnen enthaltenen Giftstoffe werden erst durch den Kochvorgang zerstört.

Bei Tomaten und Kartoffeln enthalten Stängel und anderes Grün ebenso wie Strunk und Triebe Glykoalkaloide wie Solanin, die Kopfschmerzen und Übelkeit auslösen. Bei Kartoffeln ist Vorsicht auch bei den Knollen angesagt: Durch falsche Lagerung, Lichteinfluss oder Beschädigungen kann sich hier Solanin direkt unter der Schale bilden. Das Bundesamt für Risikobewertung empfiehlt, nur frische und unverletzte Kartoffeln mit Schale zu verzehren und rät von Snacks aus Kartoffelschalen ab. Bei Rhabarber enthalten die Blätter viel Oxalsäure, die die Bildung von Harnsteinen fördert und die Aufnahme von Mineralstoffen behindert.

Ein anderer Grund, Blätter und Stiele nicht zu verwerten, ist eine Folge der modernen Landwirtschaft: Zu viel Nitrat und Pestizid-Rückstände. Dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zufolge finden sich diese Stoffe im Grün von Rüben und Knollengemüse wie Kohlrabi, Rettich und Rote Bete ebenso wie in den äußeren Blättern von Blattgemüse und Salat in höherer Konzentration. Freiland- und Biogemüse enthält weniger Rückstände, am besten sind unbehandeltes Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten.

Obstkerne und -steine enthalten unterschiedliche Mengen Amygdalin, die bei der Verdauung zu Blausäure umgewandelt wird. Während Aprikosenkerne so viel Amygdalin enthalten, dass bereits nach wenigen Kernen Vergiftungserscheinungen auftreten können, ist etwa bei Apfelkernen die Menge erheblich geringer. Dass man einen Apfel samt Kernen im Ganzen verspeisen kann, hat nicht nur mit der Amygdalin-Konzentration zu tun: Unzerkaute Apfelkerne passieren den Verdauungstrakt, ohne den Stoff freizusetzen.

Innere Werte

Die Bereitschaft, einmal etwas anderes als Kotelett zu probieren, endet bei vielen, wenn es an Innereien geht: Leber, Herz, Niere, Kalbsbries oder Kutteln schrecken mit ungewohnter Konsistenz, ausgeprägtem Eigengeschmack oder Aussehen und Geruch im Rohzustand ab. Es lohnt sich, die Sperre im Kopf zu überwinden – richtig zubereitet sind diese Fleischstücke eine Delikatesse.

Dabei müssen Sie nicht einmal über den heimischen Tellerrand hinausschauen. Saures Lüngerl ist ein Standard der österreichischen und bayerischen Küche. Leber steht gebraten, gebacken oder süß-sauer inzwischen wieder auf vielen Speisekarten, von der Leberknödelsuppe ganz zu schweigen. Zunge als Frikassee oder gebacken ist hingegen noch seltener zu finden. Wer mit Blutwurst kein Problem hat, kann sich an das norddeutsche Schwarzsauer wagen; hier ist Schweineblut eine der Hauptzutaten. Ochsenmaulsalat und Schweinskopfsülze schmecken viel besser, als die Namen vermuten lassen. Übrigens: Lungenbraten hat nichts mit Innereien zu tun – das ist die in Österreich gängige Bezeichnung für Rinderfilet. Fisch-Innereien sind eher selten zu bekommen, lassen sich aber ebenso etwa zu Leberpastete oder Beuschelsuppe verarbeiten.

In anderen Ländern stehen solche Gerichte viel selbstverständlicher auf der Speisekarte; einige Menschen kommen deshalb im Urlaub auf den Geschmack. So ist Tripes de Boeuf ein Kuttelgericht aus der Normandie. In den französischen Pot-au-feu kommen traditionell günstigere Fleischsorten, darunter Rinderzunge, -herz oder -backen. Die Andouille, eine aus Innereien bestehende Wurst, lässt sich nicht nur im Ursprungsland Frankreich probieren, sondern ist auch fester Bestandteil der Cajun-Küche im US-Staat Louisiana. Für das schottische Nationalgericht Haggis wird ein Schafsmagen mit Herz, Nieren und Leber des Tieres gefüllt. Black Pudding, Boudin Noir, Morcilla und Blunzn sind nationale Varianten der Blutwurst.

Wie bei Gemüse lassen sich die „Abfälle“ bei Fleisch und Fisch ebenfalls verwerten. Aus Fett, Karkassen, Fischköpfen, Krebsschalen, Knochen, Gräten und Resten vom Parieren entstehen so Brühen und Fonds, die als Suppen- und Saucen-Grundlage dienen. Knochenmark kann nicht nur zu Markklößchen, sondern auch zu Aufstrich verarbeitet, direkt geröstet oder als Zutat in Risotto oder Saucen eingesetzt werden.

Schad­stoffe und Grenz­werte

Innereien können eine kulinarische Offenbarung sein – aber nicht für alle Menschen: Einige tierische Organe können erhöhte Cholesterin- oder Vitamin-A-Werte aufweisen. Damit sind sie für Menschen mit Vorerkrankungen oder Risiko­gruppen unter Umständen nur eingeschränkt empfehlens­wert. Bei Innereien von Wildtieren können noch Schwermetall- und Schadstoff­belastung den Genuss verderben.

Das Bundes­ministerium für Umwelt, Natur­schutz und nukleare Sicherheit rät deshalb nur zum „gelegentlichen“ Verzehr der Innereien von Hirsch, Hase & Co. Die Behörde versteht darunter einen zwei- bis drei­wöchigen Abstand zwischen solchen Mahlzeiten, was für die meisten kein Problem darstellen dürfte.

Immer noch gut

Resteverwertung ist die logische Fortsetzung des Prinzips, möglichst viel eines Lebensmittels zu verwenden und weniger zu verschwenden. Dies vermeidet, dass der Kühlschrank zum „Kaltkomposter“ wird, in dem Restportionen so lange gelagert werden, bis sie mit flaumig-grüngrauem Pelz dann doch in der Mülltonne landen. Als Anregungen:

  • Vom Sonntagsbraten übrig gebliebene Sauce verleiht einem Nudelauflauf Geschmack – und sind noch ein, zwei Scheiben Fleisch da, reichen die dort klein gewürfelt ebenfalls für alle.
  • Ein Rest Käse, Schinken oder Salami eignet sich immer noch zum Aufpeppen eines Gerichts.
  • Reste von Gemüsebeilagen lassen sich in Suppen und Eintöpfen verwerten.
  • Sind Obst und Gemüse nicht mehr knackig, sind sie richtig zubereitet dennoch lecker: Einem Mus, Kompott oder Müsli merken Sie es z. B. nicht an, dass der verwendete Apfel schon etwas schrumpelig war.
  • Brotsuppe oder Brotauflauf sind althergebrachte Gerichte, um altes Brot zu verwerten – sie schmecken aber heute noch.
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